C-Reihe / 367. Wahl
III. Quartal 2017
Mezzotinto
Cross all your skies see the silent writing
1. 01, 39,0 × 48,5 cm / 30,0 × 40,0 cm
2. 02, 48,5 × 39,0 cm / 40,0 × 30,0 cm
3. 03, 48,5 × 39,0 cm / 40,0 × 30,0 cm
4. 04, 39,0 × 48,5 cm / 30,0 × 40,0 cm
5. 05, 48,5 × 39,0 cm / 40,0 × 30,0 cm
6. 06, 39,0 × 48,5 cm / 30,0 × 40,0 cm
Papierqualität: 300 g/qm Hahnemühle Alt Worms
Drucker: Ellen Sturm-Loeding, Carlos León, Hamburg
Night Sun
von Brigitte Bedei
Neben komplexen Rauminstallationen, in denen die in Berlin lebende Künstlerin Natalia Stachon ein Wechselspiel zwischen Skulptur und architektonischem Raum inszeniert, zeigt sie häufig auch Zeichnungen und Siebdrucke, die in Zyklen angelegt sind. Virtuos zeichnet sie seltsame Architekturen, Zimmer, Container, Brachen, Leerstellen und Zwischenräume, in denen sich aus Graustufen neue Räume entfalten. Stachons photorealistische Stadtlandschaften wirken imaginär und fantastisch, sie scheinen wie hypothetische Untersuchungen über verschiedene Architekturformen und stehen häufig in Verbindung zu ihren Skulpturen.
Im letzten Jahr haben wir Natalia Stachon zu unserem Werkstattstipendium nach Hamburg eingeladen. Sechs Wochen lang hat sie daraufhin in der Werkstatt Sturm-Loeding Quartier bezogen. Unter Anleitung der Druckerin hat sie ihre Zeichnungen, die die Künstlerin aus vielfältigen Bildfragmenten collagiert und dann zeichnerisch minuziös aufs Papier überträgt, in die Technik der Mezzotinto übersetzt. In der besonders aufwendigen Tiefdrucktechnik wird die Radierplatte so bearbeitet, dass sämtliche Tonwerte von ganz hell bis samtig schwarz erzeugt werden können. Aus der zunächst vollständig aufgerauten Kupferplatte glättet die Künstlerin mit einem Polierstab diejenigen Stellen, an denen helle Partien erscheinen sollen. Entstanden ist eine beeindruckende Serie von sechs Radierungen, die Stachon in enger Anlehnung an eine Serie von Kohlezeichnungen entwickelt hat.
Beschäftigt hat sich Natalia Stachon in ihrem Zeichnungszyklus Cross all your skies see the silent writing mit einem Phänomen, das die Bewohner von Los Angeles »Night Sun« nennen: das künstliche und bedrohliche Licht der Suchstrahler von Polizeihubschraubern, die über dem nächtlichen L.A. kreisen und partiell die Nacht zum Tage machen. Und das nicht nur über den Problembezirken, sondern auch über den wohlhabenden Stadtteilen, zum Schutze ihrer Bewohner vor unerwünschten Eindringlingen. »Night Sun« erscheint hier als Sinnbild von Macht, Kontrolle und Paranoia – der »ecology of fear«, die nach dem amerikanischen Soziologen und Historiker Mike Davis das Stadtbild von Los Angeles zunehmend prägt.
Inspiriert wurde Stachon auch durch die Beschäftigung mit Prosa von William S. Burroughs, im Besonderen mit dem Text Nova Express von 1964, einer abstrakten Erzählung über den Untergang eines Planeten. Die Atmosphäre von Entfremdung, Desorientierung, Chaos und Paranoia ist in seinen Vorstellungen von urbanem Raum allgegenwärtig. Diese Vorstellungen haben bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, obwohl sie bereits
in den 1960er-Jahren verfasst wurden.
Die Motive von Natalia Stachon sind weit vor dem G20-Gipfel, der damit einhergehenden Polizeipräsenz und den Protesten in Hamburg entstanden. Die Bilder aus diesen Tagen dürften allen noch gut im Gedächtnis sein – sie verleihen der Edition eine bedrückende Aktualität.
Natalia Stachon, geboren 1976 in Kattowitz, Polen. Lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte von 1997–2004 in Hamburg an der Hochschule für bildende Künste und an der Zürcher Hochschule für Gestaltung und Kunst.
Ihre Werke waren in zahlreichen Einzel-und Gruppenausstellungen zu sehen, u.a. 2017 Topografien, mit Alex Soth und Ulrich Wüst, LOOCK Galerie, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin (E); 2016 Natalia Stachon at Sapphire (by Daniel Liebeskind), Berlin (E); Skulpturenmuseum Glaskasten, Marl; CSW Center of Contemporary Art, Torun, Polen; 2015 n.b.k. Neuer Berliner Kunstverein, Berlin; 2014 Museum für Konkrete Kunst, Ingolstadt. 2013 erschien die Monographie Natalia Stachon. Daimler Artist Book #3, herausgegeben von der Daimler Kunstsammlung Stuttgart/Berlin.