C-Reihe / 362. Wahl II. Quartal 2016
Schwarzweiß-Photographien
aus dem Nachlass der Photographin im Museum Folkwang, Essen
Tanz und Revolte
1. Jo Mihaly in Révolution, Paris 1925 (aus der Mappe Tanz)
Pigmentierter Inkjet-Print nach photographischem Originalabzug
21,2 x 11,8 cm
2. Tibetan Dancers, Indien 1971
Silbergelatine-Abzug vom Color-Kleinbild-Negativ, 12,7 x 17,7 cm
3. Black Bird Dancer, Paris 1929
Silbergelatine-Kontaktabzug vom 24 x 18 cm-Glasplattennegativ
23,2 x 17,7 cm
4. Jeune danseuse lenguée dans une danse de fétiches,
Bangui, Oubangui-Chari 1943
Pigmentierter Inkjet-Print nach photographischem Originalabzug
17,7 x 11,2 cm
5. Jo Mihaly, Paris 1928 (aus der Mappe Tanz)
Pigmentierter Inkjet-Print nach photographischem Originalabzug
22,1 x 16,9 cm
6. Afrikanische Skulptur, 1925–27
Silbergelatine-Abzug vom 9 x 6 cm-Glasplattennegativ, 17,2 x 11,2 cm
Hersteller Silbergelatine-Abzüge: Wolf Haug, Essen
Hersteller Inkjet-Prints: Humme, Leipzig
Papierqualität Karton: 350 g/qm Colorplan
Hersteller Mappe und Kaschierung auf 36 x 26 cm-Karton: Thomas Zwang, Hamburg
Germaine Krull – Von der Mappe Tanz zum Mappenwerk der griffelkunst
Mit der Edition von sechs Motiven aus dem Nachlass von Germaine Krull, einer der Hauptvertreterinnen des Neuen Sehens, betritt die griffelkunst Neuland. In enger Kooperation mit Florian Ebner, dem Leiter der Fotografischen Sammlung des Museum Folkwang, haben wir uns an die Realisierung einer Nachlass-Edition gemacht, die sowohl dem historischen Kontext der Entstehung und Präsentation der Photographien Rechnung trägt, als auch allen heutigen technischen Möglichkeiten. In einer »Technischen Notiz zum Umgang mit dem Original« erläutert Florian Ebner das Entstehen der Edition, während Kerstin Meincke, die für das Museum Folkwang
die Mappe zusammengestellt und betreut hat, im Anschluss die Auswahl vorstellt.
Technische Notiz zum Umgang mit dem Original
von Florian Ebner
Die vorliegende Edition umfasst sechs Neuabzüge von Photographien Germaine Krulls, deren jeweiliger Aufnahmezeitpunkt sich über einen Zeitraum von nahezu 50 Jahren erstreckt. Verbindet sie auch das Motiv von Tanz und Revolte, so unterscheiden sie sich doch im photographischen Ausgangsmaterial und Erhaltungszustand der Originale. Angesichts der neuen Möglichkeiten auf dem Gebiet der digitalen Technik – sowohl hinsichtlich der Reproduktion einer Photographie wie auch im Abzug bzw.
Ausdruck eines Bildes – geht diese Edition neue Wege. Sie kombiniert analoge Vergrößerungen von Glasplatte und Kleinbildfilm mit pigmentierten Tintenstrahl-Ausdrucken, basierend auf einem hochwertigen Scan des Originalabzugs. In mancherlei Hinsicht erlaubt die digitale Interpretation des Motivs sogar eine größere Nähe zur ursprünglichen Gestalt des Abzugs als ein analoger Neuabzug je erreichen könnte. Analoges Ausflecken und digitale Retusche kommen nur sparsam und im Sinne des
Originals zum Einsatz.
So unkonventionell wie die Photographin selbst mit ihrem Material experimentierte – von Color-Kleinbildnegativen fertigte sie z.B. Schwarzweiß-Vergrößerungen –, so sorgfältig geht die Edition mit der visuellen Erscheinung ihrer Arbeiten um, wie sich in Tonalität, Oberfläche und Präsentation der Abzüge zeigt. Auf dieser Grundlage nimmt sie für sich in Anspruch, die durch die Erweiterung des technischen Spielraums entstandene Freiheit dazu zu nutzen, der originalen Sichtweise der Künstlerin näherzukommen – jenseits der Bedingtheiten der materiellen Überlieferung.
Kritische Choreographien Tanz im Werk der Photographin Germaine Krull
von Kerstin Meincke
(Auszug aus dem Textheft zur Mappe)
Menschliche Körper und Maschinen bilden die zentralen Sujets in Germaine Krulls Frühwerk. So gegensätzlich dies klingen mag, so verzahnt sind anfänglich beide Interessenfelder, führen sie doch immer wieder auf die Beziehung zwischen Verletzbarkeit und emanzipatorischer Kraft des Menschen zurück – und damit zu den zentralen politischen Fragen, die Krulls gesamte Biographie und ihr gesamtes künstlerisches Schaffen prägen sollten. Sie entwirft den Körper als Handlungsraum zeitlebens und in wechselnden Situationen immer wieder neu, ganz besonders im Tanz, als Metapher für die spielerische Veränderbarkeit von Welt. Und diesen Choreographien spürt die für die griffelkunst getroffene Auswahl nach. Sie präsentiert sechs Aufnahmen aus den Jahren 1925 bis 1971 und ist gestalterisch angelehnt an die Mappe Tanz, die Germaine Krull vermutlich um 1930 im Rückgriff auf ihr eigenes Archiv zusammengestellt hatte und die sich im Nachlass der Photographin im Museum Folkwang befindet. Wie andere Publikationen dieser Zeit – z.B. die Mappenwerke Métal (1928, Abb.) oder Études de nu (1930) – lädt auch das Portfolio Tanz dazu ein, die präsentierte Reihenfolge als veränderbar aufzufassen. Ihr spezifisches Format von 36 x 26 cm wurde in der Edition ebenso aufgegriffen wie die Idee, die Schwarzweiß-Abzüge auf farbigem Karton zu zeigen. Damit werden Bild und Bildträger ganz im Sinne der historischen Vorlage bewusst als Einheit betrachtet.
Biographisch und inhaltlich involviert die Edition drei zentrale Phasen politischen Engagements der Künstlerin. Diese umspannen ihre Bildproduktion in Europa, Afrika und Asien, beginnend mit Germaine Krulls Nähe zum Sozialismus und zur Arbeiterbewegung, die sich unmittelbar an ihre Studienzeit an der Münchner »Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie« (1915–1917) anschloss und mit ihrem Umzug nach Paris Mitte der 1920er Jahre ihren unverwechselbaren künstlerischen Ausdruck gefunden hat. Die Edition präsentiert vier Aufnahmen dieses Kontextes, darunter zwei Photographien der klassenkämpferischen Ausdruckstänzerin Jo Mihaly, die sich bereits in der oben genannten Mappe Tanz befunden hatten. Darüber hinaus wird mit der tanzartigen Darstellung einer afrikanischen Skulptur aus einer bisher nur marginal beachteten Werkgruppe Krulls sowie mit dem Porträt eines schwarzen Tänzers im Moulin Rouge auf die kolonialpolitische Rahmung dieser Schaffensperiode verwiesen. Tanz als Fluchtpunkt kolonialer Phantasie setzt sich auch mit der zweiten für die Edition berücksichtigten Zeitspanne fort. Während ihrer Tätigkeit als Propaganda-Photographin für die französische Résistance in den damaligen Kolonialgebieten Französisch-Äquatorialafrikas (1942–1944) hatte Germaine Krull regelmäßig den dargebotenen Showtänzen der lokalen Bevölkerung beigewohnt und in diesem Kontext u.a. eine junge Tänzerin in einem vermeintlichen Fetischtanz photographiert, deren Darstellung sich in der Edition findet. Nach dem Zweiten Weltkrieg entschloss sich Germaine Krull, Europa dauerhaft den Rücken zu kehren, um zunächst in Thailand und schließlich in Indien ansässig zu werden. Dieser Schritt markiert zugleich die letzte Phase intensiven politischen und persönlichen Engagements der Photographin, ihren Einsatz für die exilierten Tibeter, deren Alltag und religiöses Leben sie umfassend dokumentiert hat und schließlich selbst zum Buddhismus konvertiert ist.
Germaine Krull wurde 1897 im heutigen Poznán (Polen) geboren, gelangte nach zahlreichen Umzügen ihrer Familie 1912 nach München, wo sie Photographie studierte und 1917 ein Atelier eröffnete. In der Novemberrevolution 1918 avancierte Krulls Studio zum Treffpunkt eines Bohème- und Intellektuellenzirkels.
Aufgrund ihrer Nähe zu russischen Sozialistenkreisen wurde sie 1920 des Landes Bayern verwiesen und zog nach Berlin. 1926 gelangte sie nach Paris, wo sie ab 1928 mit Lancierung der Zeitschrift VU modernistische Reportagen photographierte. 1941 emigrierte sie über La Martinique nach Brasilien, wo sie Mitglied des Freien Frankreichs unter Leitung Charles de Gaulles wurde. Von 1942 bis 1944 leitete sie den Photoservice des Freien Frankreichs in Brazzaville in der heutigen Republik Kongo. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich Germaine Krull in Bangkok nieder und leitete das legendäre Oriental Hotel, bis sie den Anhängern des Dalai Lama nach Nordindien folgte. Germaine Krull starb 1985 in Wetzlar.