Emma Talbot
Wenn Träume Flügel bekommen
von Brigitte Bedei
»Ich zeichne, um zu sehen, was ich denke«, sagt die britische Künstlerin Emma Talbot. Sie verbindet Zeichnung mit Malerei, Text und Skulptur. Ihre Werke, von großformatigen Stoffarbeiten bis zu animierten Filmen, beschäftigen sich mit Identität, Erinnerung, Emotion und Veränderung, inspiriert sowohl von persönlichen Erfahrungen als auch von kollektiven und mythologischen Erzählungen.
Talbots Bildsprache ist poetisch und direkt zugleich. Verletzliche, oft nackte weibliche Körper erscheinen in leuchtenden Farben und freien Linien. Sie stehen selten in realen Räumen, vielmehr bewegen sie sich in symbolischen Landschaften, Traumfeldern oder graphischen Mustern. So entstehen Räume des Übergangs und inneren Wandels.
Für die griffelkunst hat Talbot einen dreifarbigen Linolschnitt geschaffen. Die Druckgraphik zeigt eine hybride Gestalt, halb Vogel, halb Mensch, in aufsteigender Bewegung. Der leuchtend orange-gelbe Körper kontrastiert mit dem tiefvioletten Hintergrund. Im Schnabel trägt die Figur einen Zweig, ein Symbol für Neubeginn, Frieden oder das Überbringen einer Botschaft. Der Körper wirkt fragmentiert und zugleich verbunden: Arme und Beine verschmelzen mit Flügeln und Federn, als fände gerade eine Verwandlung statt. Die Figur erhält so eine mythische Qualität, die an Ovids Metamorphosen erinnert, in denen innere Zustände durch körperliche Transformation sichtbar werden. Die Technik des Linolschnitts verstärkt die Wirkung: klare Linien, ornamentale Formen und rhythmische Texturen erzeugen Bewegung. Perspektive und realistische Details treten zugunsten von Geste, Haltung und Ausdruck zurück. Gelb und Orange symbolisieren Licht, Energie und inneres Leuchten, ein tiefes Violett verweist auf Spiritualität und Transzendenz. Die Edition lebt von Emma Talbots eigener visueller Sprache, zwischen poetischer Erzählung, feministischer Symbolik und klarer graphischer Form. Sie eröffnet einen Raum, in dem Transformation, Identität und das Zwischenreich von Mensch und Mythos erfahrbar werden.
B-Reihe / 372. Wahl
IV. Quartal 2018
Holzdruck / Lithographie
1. Plants, Holzdruck
40,0 × 55,0 cm / 36,0 × 52 cm
2. The Women Who Closes Her Eyes, Lithographie
39,5 × 51,0 cm / 37,0 × 47,5 cm
3. Solar Flare, Holzdruck
40,5 × 55,0 cm / 36,0 × 52,0 cm
4. When Screens Break, Holzdruck
40,5 × 55,0 cm / 36,0 × 52,0 cm
5. The Women Who Dreams She‘s Alive, Lithographie
39,5 × 51,0 cm / 37,0 × 47,5 cm
6. Dream, Holzdruck
40,0 × 55,0 cm / 36,0 × 52,0 cm
Papierqualität: 56 g/qm Kososhi creme (Holzdruck)
210 g/qm Zerkall Bütten (Lithographie)
Drucker*in: Ellen Sturm-Loeding, Carlos Leon, Hamburg
Zwischen Traum und Wirklichkeit
von Brigitte Bedei
Die britische Künstlerin Emma Talbot erzählt in ihren Bildern Geschichten von Liebe und Glück, Verlust und Trauer, Scham und Angst. Protagonisten sind dabei häufig gesichtslose Figuren mit leicht konisch geformten Köpfen, die silhouettenhaft gezeichnet sind. Wie Gedichte artikulieren Talbots Werke Gedanken und Ideen und fokussieren sich auf Aspekte, welche die Künstlerin beschäftigen. Dabei verwebt sie Szenen und Erinnerungen aus ihrem persönlichen Leben mit sozialen, politischen und philosophischen Betrachtungen.
In Malerei, Zeichnung, dreidimensionalen Werken und großformatigen Stoffarbeiten breitet Emma Talbot ihren Kosmos vor uns aus und versteht ihre Arbeit dabei als eine fortlaufende Reihe von Erkundungen ihres eigenen Lebens. Das Werk der Künstlerin wird gleichermaßen aus Literatur, Arts and Crafts, Philosophie und Psychologie gespeist und mit autobiographischen Elementen durchmischt. Es gibt dabei zwei verschiedene Bildsprachen, die sie inspirieren. Zum einen die klassische japanische Ästhetik, die für sie zugleich dekorativ und abstrakt, verspielt und modernistisch erscheint. Zum anderen die indische Miniaturmalerei, in der narrative Bilder mit abstrakten Einfassungen, Texten oder Ornamentik verbunden werden.
Emma Talbot verbindet in ihren Arbeiten ebenfalls Text, Bild und Ornament. Dabei geht es ihr nicht nur um die Inhalte des Textes, »sondern auch darum, wie die Buchstaben und Wörter visuell im Raum wirken, welche Lesarten möglich werden und wie Bild, Ornament und Text miteinander verbunden sind.« Häufig arbeitet sie intuitiv und bleibt so lange an ihren
Zeichnungen, bis sich für sie ein Thema herauskristallisiert.
In diesem Jahr war Emma Talbot Stipendiatin der griffelkunst. Im Februar hat sie drei Wochen lang in der Werkstatt von Ellen Sturm-Loeding in Hamburg gearbeitet. Ihr zeichnerisch angelegtes Werk hat sie zunächst in die Lithographie übersetzt und ihre verschachtelten Bildsequenzen direkt auf den Lithostein gezeichnet. Aus einer Reihe von Lithographien, in denen Talbots typische Figuren im Mittelpunkt stehen, haben wir zwei Sequenzen ausgewählt. In A women who closes her eyes schaut eine Frau in sich selbst hinein und sucht nach einer Energiequelle. Die innere Kraft wird dabei sowohl als Kundalini-Schlange als auch in Form einer Flamme dargestellt. Die einzelnen Bilder sind wie in einer Bildergeschichte in verschiedene Sequenzengegliedert, Bild, Text und Ornament stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander und ergeben ein Ganzes.
Darüber hinaus hat die Künstlerin eine Reihe von Holzdrucken entwickelt. Hier erkundet sie Träume und innere Welten, die sie in Kontrast setzt zu einer fortschreitenden Wechselbeziehung des Individuums mit sozialen Medien. So stellt Emma Talbot die analoge Welt der digitalen gegenüber und entwickelt imaginäre Szenen von Sonneneruptionen und einer Zukunft, in der Bildschirme und Telefone zerbersten – eine Zukunft ohne Technologien. Gedruckt wurden die Holzschnitte auf einem wunderbar leichten Japanpapier, das den Graphiken eine fast textile Materialität verleiht.
Der Holzschnitt scheint für Talbots Erkundungen dabei das perfekte Medium zu sein. Von allen Drucktechniken ist der Holzschnitt die älteste. Und doch war es gerade diese Technik, die die Geburt des Medienzeitalters eingeläutet hat. So bewegen sich Talbots Arbeiten sowohl inhaltlich als auch formal zwischen Vergangenheit und Zukunft, Sorge und Zuversicht.

Emma Talbot
geboren 1969 in Worcestershire, Großbritannien
lebt und arbeitet in London