griffelkunst

Karin Sander

Einzelblatt E 614

E 614 Nichts ist egal (Variante 1)
E 614 Nichts ist egal (Variante 1)
E 614 Nichts ist egal (Variante 2)
E 614 Nichts ist egal (Variante 2)
E 614 Nichts ist egal (Variante 3)
E 614 Nichts ist egal (Variante 3)
E 614 Nichts ist egal (Variante 4)
E 614 Nichts ist egal (Variante 4)

» What you see is not what you get«

von Dirk Dobke

ist der Titel einer Arbeit von Karin Sander aus dem Jahr 2022 zu sehen bei Esther Schipper in Berlin. Sie zeigt eine Rauminstallation mit 22 verschlossenen, typischen Transportkisten, wie sie international für Kunsttransporte verwendet werden. Als Besuchende bekommt man diese Kisten normalerweise nicht zu sehen, denn das, was da aufwändig verpackt und sicher gereist ist, hängt oder steht dann längst in der Ausstellung. Was Karin Sander in What you see is not what you get wirklich zeigt beziehungsweise nicht zeigt, erklärt sich zunächst nur aus einem lapidar in Klammern angehängten Zusatz im Titel: 22 Exhibitions. Die Künstlerin hat also nicht nur einzelne Werke nicht auspacken lassen, sondern präsentiert gleich 22 komplette Ausstellungen, eine in jeder Kiste, alle ungeöffnet. Von den enthaltenen Kunstwerken ist nichts zu sehen. Für Kaufi nteressenten gibt es eine Liste mit Titeln, Material- und Größenangaben sowie Preisen der unterschiedlich großen Kisten, aber keine Abbildungen des Inhalts. Wer eine solche Arbeit in der Galerie kaufen möchte, der muss sich sozusagen für eine Größe oder einen Preis oder einen Titel entscheiden, ohne zu wissen, was er letztlich bekommt. Vielleicht würde der Sammler das Geheimnis des Inhalts sogar niemals lüften, sondern sich mit der Vorstellung einer potentiellen Ausstellung begnügen.

Kaum eine Künstlerin hinterfragt so geistreich augenzwinkernd die Kunstwelt wie Karin Sander. Nichts von dem, was wir im Kunstzusammenhang gewohnt sind, wird von ihr künstlerisch einfach nur bedient. Sander thematisiert hingegen immer wieder das System Kunst, die Ausstellungs-, Präsentations- und Vermarktungsformen. Für die Werkserie Mailed Paintings verschickt sie weiß grundierte, aber unbemalte Leinwände unverpackt mit der Post an die jeweiligen Ausstellungsorte, wo sie so gezeigt werden, wie sie ankommen. Die eingetroffenen, »niemals fertigen« Bilder zeigen alle möglichen zufälligen Spuren des Transports, einschließlich etwaiger Beschädigungen und diverser Adress- und Benachrichtigungsaufkleber. So prägt letztlich die Summe aller Zufälligkeiten die Erscheinung jedes einzelnen Bildes. Für Kernbohrungen im Neuen Berliner Kunstverein bleiben die Ausstellungsräume zunächst komplett leer, Karin Sander zeigt kein einziges Werk auf den Wänden. Dafür lässt sie dort, wo ursprünglich die Papierkörbe standen in den darüber liegenden Büroräumen ein Loch (»Kernbohrung«) durch den Fußboden/ Decke bohren und so füllen die Papier-Abfälle aus den jeweiligen Büros in den kommenden Wochen sukzessive die Ausstellungsräume und geben transparent Einblicke in die Funktionen der Mitarbeitenden. Für die Kitchen Pieces nagelt sie Bananen, Blaubeeren oder Orangen und Gemüse wie Kartoffeln, Möhren etc. auf die Ausstellungswände. Dort fangen sie an zu schimmeln, zu faulen und zu trocknen, jedes Stück in seiner eigenen Halbwertzeit. Ein Zertifikat mit Angaben zu dem jeweiligen Obst oder Gemüse und ein spezieller Nagel definieren dieses sich immer wieder neu formende und verändernde Werk, das keinen Tag so aussieht wie am Tag zuvor.

Von uns eingeladen beschäftigt sich Karin Sander mit dem »Prinzip griffelkunst«, also mit der demokratischen Idee der druckgraphischen Vervielfältigung von Kunstwerken. Durch die reproduzierenden Techniken wird ja jede unserer Editionen zu einer homogenen Serie gleicher Drucke.

Für ihre Edition entscheidet sich Karin Sander gegen das Drucken. Stattdessen beschreibt sie jedes Blatt individuell von Hand mit dem immer gleichen Satz: »nichts ist egal«. Jede Arbeit wird also zum Unikat. Statt die Blätter zu signieren, worin ja eigentlich die finale Authentifizierung besteht, stempelt sie ihre Unterschrift und kehrt so die gewohnten Konventionen um. Jedes Motiv entsteht handschriftlich und jede Unterschrift wird gedruckt. Ein weiteres, typisches Merkmal unseres Wahlreihensystems ist ja bekanntlich, dass man bis zu sechs Motive aus einer Reihe wählen kann, aber jedes Motiv eben nur einmal. Auch mit diesem Prinzip bricht die Künstlerin. Von ihrem Einzelblatt können Sie – ausnahmsweise – bis zu maximal sechs (!) Varianten bestellen. Wie genau die von Ihnen bestellten Blätter aber am Ende aussehen werden, dass erfahren Sie erst im Herbst bei der Abholung: What you saw is not what you get …

Sander_Portrait_©-Jens-Ziehe_web.jpg

Karin Sander

1957 geboren in Bensberg,
lebt und arbeitet in Berlin und Zürich, Schweiz