Julia Schmid
Projekt-Reihe
385./386. Wahl
I./II. Quartal 2022
WAL, 2022
Radierung mit Poster, Booklet und Mappe
P85 Walstück eins, der Kiefer
42,0 × 34,0 cm | 38,0 × 30,0 cm
P86 Walstück zwei, der Kopf mit Fontäne
34,0 × 42,0 | 30,0 × 38,0 cm
P87 Walstück drei, Leib mit unterer Flosse
34,0 × 42,0 | 30,0 × 38,0 cm
P88 Walstück vier, der Buckel (oben)
42,0 × 34,0 cm | 38,0 × 30,0 cm
P89 Walstück fünf, die Schwanzfl osse (oben)
34,0 × 42,0 | 30,0 × 38,0 cm
P90 Walstück sechs, die Schwanzflosse (unten)
34,0 × 42,0 | 30,0 × 38,0 cm
Druck: Handdruck Loeding & Sturm, Hamburg
Papierqualität: 350 g/qm Bütten-Papier
Poster: 42,5 × 140,0 cm, gefalzt: 42,5 × 35,0 cm
Booklet: 29,7 × 21,0 cm
Mappe: 44,0 × 36,0 cm
WAL- Blätter
von Stephanie Bunk
Die sichtbare Oberfläche des lebenden Pottwals ist nicht das geringste der vielen Wunder, die er zu bieten hat. Fast immer ist sie überall kreuz und quer mit einem dichten Gewirr zahlloser gerader Striemen gezeichnet, etwa wie die Schraffuren auf den besten italienischen Kupfern. [...] Und mehr noch: In manchen Fällen bilden die Striemenstriche für das wache, aufmerksame Auge die Grundierung für ganz andere Zeichnungen, genau wie bei einem richtigen Kupferstich. Herman Melville, Moby Dick, 1851, in der Übersetzung von Matthias Jendis, 2001
Herman Melvilles Roman Moby Dick gilt trotz seines Umfangs als eines der meistgelesenen Bücher. Doch sicher haben es nur wenige so genau gelesen wie Julia Schmid, die das Werk im Hinblick auf Beschreibungen des weißen Wals durchgearbeitet hat. Diesen sind im Buch ganze Kapitel gewidmet, die sich mit Einzelteilen des Tiers, wie der Haut oder dem Kopf beschäftigen, und parallel zu der dramatischen Handlung eingeflochten sind, in deren Verlauf Kapitän Ahab Rache an dem weißen Pottwal nimmt. Ihr Interesse an dem Roman beschreibt die Künstlerin folgendermaßen: »Diese genauen Beschreibungen sind so genau, dass sie – komischerweise – beinahe abstrakt werden. Sie könnten zugleich auch Landschaften, Menschen, philosophische Fragen behandeln … Das hat mich so fasziniert, dass ich das Buch gleich mehrfach gelesen habe. Ich wollte immer mal damit arbeiten und habe mich gefragt, was herauskommt, wenn man diese Beschreibungen wirklich bildlich zusammensetzt. Reichen sie aus, um das Bild eines gesamten Wals zu ergeben?«
Dieser Frage ist Julia Schmid erstmals 2017, anlässlich einer Einladung zu der Ausstellung The Fountain Mémoire nachgegangen, die an das berühmte Readymade »Fountain« von Marcel Duchamps erinnerte. Hatte sie sich zunächst nur auf die Fontäne fokussiert, wuchs das Projekt zu einer zeichnerischen Konstruktion des gesamten Tiers auf 14 Zeichenbögen an, die zusammengesetzt eine Rekonstruktion des von Melville beschriebenen Wals ergeben. Begleitend erschien ein Buch mit allen Skizzen und Notaten, die sie während der Lektüre fertigte. Das Buch wurde auf einem Sockel zusammen mit der Photographie der Bleistiftzeichnungen in der Ausstellung präsentiert. Diese Arbeit hat Julia Schmid für ihre Griffelkunst-Edition in die Radierung übertragen.
Melvilles Beschreibung der Walhaut, auf der sich Erfahrungen und Erlebnisse wie auf einer Radierplatte einschreiben, übersetzt die Künstlerin in Schraffuren, Strukturen und Skalierungen. Die Drucke hat Schmid als Paare angelegt, die aber auch einzeln oder in Kombination mit anderen »Walstücken« funktionieren und sich zu einem größeren, wenn auch ausschnitthaften Wals zusammensetzen lassen. Zur Edition erscheint als Poster die 14-teilige Zeichnung des Wals als Referenz. Wer alle sechs Radierungen auswählt, erhält sie zusammen mit einem Booklet, das nach Schmids Sikzzenbuch entstanden ist. Die von der Künstlerin gestaltete Mappe wurde ganzflächig mit »Rubbellack« überzogen, nur eine Aussparung lässt erahnen, dass darunter noch Text verborgen ist. »Striemen«, Kratzer und andere Spuren der Benutzung auf der Oberfläche sind ausdrücklich erwünscht.
Die Edition zeigt Ansichten des Wals, wie Melville ihn erschaffen hat, durch die Kraft der Phantasie, nicht mit dem Auge der Wissenschaft. Dadurch ergeben sich Unstimmigkeiten gegenüber anatomisch genauen Darstellungen des größten Säugetiers, die Raum für eine andere Betrachtung und Lesbarkeit des Wals eröffnen. Melville – genauso wie Julia Schmid nach ihm – lesen seine Erscheinung als Spiegelbild der Natur, aber auch von Kulturen, die durch Eroberer wie Kapitän Ahab heute bedroht sind. Schmids Thema ist nicht die Natur selbst, sondern immer schon deren Darstellung in der Malerei, der Zeichnung, in Naturkundemuseen und auch in der Literatur. Ihre Arbeit ist eine künstlerische Kartographie, die ihre Quellen offenlegt und Verbindungsstellen nicht verwischt, sondern
sichtbar macht. Daher gehören neben Malerei und Zeichnung auch Texte, Begleitmaterial und vor allem Collage zum Werkzeugkasten der Künstlerin, wie sie bereits 2016 mit den beiden Einzelblättern Pflanzen im Büro – griffelkunst Hamburg, Seilerstraße gezeigt hat, die nach eigenen Photographien von Zimmerpflanzen in den Büroräumen der griffelkunst entstanden sind.

Julia Schmid
1969 geboren in Wuppertal, lebt und arbeitet in Hannover