Jitka Hanzlová
Farbexplosionen
von Stephanie Bunk
Jitka Hanzlová zählt zu den international renommiertesten Photographinnen der Gegenwart. Ihre Art, Menschen und Landschaften zu porträtieren, beeinflusst nachhaltig die künstlerisch dokumentarische Photographie. Ihre Biographie, die Erfahrung des Exils, die Erinnerung und die Suche nach Identität prägen ihr vielschichtiges Werk.1982 flieht Jitka Hanzlová aus der damaligen CSSR nach Westdeutschland. Ihr Studium der Photographie in Essen beginnt sie fünf Jahre später. Nach dem Mauerfall und der unerwarteten Samtenen Revolution in Prag 1989 kann sie an den Ort ihrer Kindheit zurückkehren und beginnt dort ihr Langzeitprojekt Rokytník zu entwickeln (1990–1994) – ein Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Nach drei Jahren fasst sie die Auslese im gleichnamigen Buch zusammen. Zahlreiche Serien und Künstlerbücher hat sie seitdem geschaffen, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde. Das Albertina Museum Wien präsentiert ab Juli 2025 eine große museale Einzelausstellung mit zehn ihrer Serien.
Parallel zu ihren Arbeiten von Menschen und Orten sind seit 2008 Werke entstanden, in denen Jitka Hanzlová das Wesen von Pflanzen ergründet. In der Serie Vanitas befasst sie sich mit der Vergänglichkeit. Photographien von Blütenständen und Samenkapseln vor schwarzem Hintergrund, der an die Ästhetik von Renaissancestillleben erinnert, erfassen die Schönheit der Pflanzenwelt im Vergehen: Blütenblätter falten sich zusammen oder verlieren ihre Farbe, bis sie transparent werden wie Pergamentpapier. Instabiles ist der Titel einer weiteren Werkreihe, für die sie Blumen, Blätter und Früchte bei Nacht aufgenommen hat. Durch das fehlende Licht versetzt die Künstlerin sie in einen künstlichen Schlaf und nimmt ihnen, was sie zum Leben brauchen. »Schon lange beobachte ich Prozesse bei Pflanzen und Tieren. Entzieht man ihnen Licht, Wasser oder ihr natürliches Klima, verändern sich Form, Farbe und Oberfläche«, schreibt Hanzlová zu Instabiles.
» Auch die Natur, die ihre Formen hervorgebracht hat, ist im Begriff, sich zu verändern.«
Um diese Veränderungen sichtbar zu machen, kehrt sie die Farben in ihr Gegenteil um. Die Bilder fangen zu kippen an, ein Prozess, den sie in ihrer Edition für die griffelkunst fortführt.
Die Serie mit dem Titel Attraktor schließt an Jitka Hanzlovás Pflanzenstudien an. Sie ist der letzte Teil einer Trilogie – unter anderen Vorzeichen und mit neuen Mitteln. Die Blüte einer Amaryllis ist Ausgangspunkt für Experimente am Computer und später in der Druckwerkstatt. Die Künstlerin hat die Blüte multipliziert, digital »geklont« und »hochgezüchtet«. Durch die Bearbeitung macht sie die Künstlichkeit von Bildern sichtbar, die sich vollständig von einem Gegenstand, dessen Abbild sie sind, gelöst haben. Diese Entfremdung von der Wirklichkeit beobachtet Hanzlová auch bei unserem Umgang mit der Natur. Blumen werden nicht mehr in ihrer natürlichen Umgebung erlebt, sondern abgeschnitten von ihr als Dekorationsobjekt.
Der Titel der Serie geht auf den italienischen Philosophen Emanuele Coccia zurück. Für ihn ist gerade die Sesshaftigkeit bestimmend für das Wesen der Pflanze. Da sie sich nicht fortbewegen können, sind sie darauf angewiesen, anziehend zu wirken. »Zunächst einmal ist sie ein Attraktor: Statt auf die Welt zuzugehen, lockt sie die Welt zu sich. […] Dank der Blüten ist das Pflanzenleben ein Ort unerhörter Farb- und Formenexplosion – der Eroberung des Reichs der Äußerlichkeiten.« (Emanuele Coccia, in: Die Wurzeln der Welt: Eine Philosophie der Pflanzen). Blumen wie die Amaryllis erleben wir jedoch nur losgelöst von ihrem natürlichen Habitat in Südamerika – um die Weihnachtszeit herum im eigenen Wohnzimmer.
Auch die Blüten, die Jitka Hanzlová geschaffen hat, wirken verlockend. Sie bauen sich Schicht um Schicht aus mehreren Druckgängen auf. Jeder einzelne verändert die Wirkung des Bildes. Es handelt sich um Prozesse, die man den fertigen Drucken ansieht. Statt die Motive digital auszudrucken, hat sich die Künstlerin für die Umsetzung als Lithographie entschieden. Sie sucht das Experiment mit ungewissem Ausgang, eine Reise in den Tunnel, ins Dunkle und ohne Blick zurück. In dem Zürcher Drucker Thomi Wolfensberger hat sie einen kongenialen Partner gefunden. Durch ihre Professionalität haben sich beide gut verstanden und eine gemeinsame Sprache gefunden, die ohne große Worte auskam.
Jitka Hanzlová
1958 geboren in Náchod/damalige CSSR,
lebt und arbeitet in Essen