griffelkunst

Jeremy Deller

C-Reihe, 399. Wahl, III. Quartal 2025

399 C1 Verlorene Kinder
399 C1 Verlorene Kinder
399 C2 Es braucht mehr Poesie.
399 C2 Es braucht mehr Poesie.
399 C3 Pimmel in Porsches
399 C3 Pimmel in Porsches
399 C4 Geteilte Realität
399 C4 Geteilte Realität
399 C5 Stonehenge ist ein Spiegel
399 C5 Stonehenge ist ein Spiegel
399 C6 Eine Zukunft ohne Angst!
399 C6 Eine Zukunft ohne Angst!

Die Kunst geht auf die Straße

von Brigitte Bedei

Mit The Triumph of Art entwirft Jeremy Deller anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der National Gallery in London 2025 eine radikale Feier der Kunst – jenseits des Museums. Statt Meisterwerke auszustellen und zu betrachten, zeigt Deller Kunst als kollektives, partizipatives Ereignis, als eine lebendige Auseinandersetzung darüber, was Kunst sein kann, wer sie macht und wo sie stattfindet. Im öffentlichen Raum inszeniert er ein kunterbuntes Straßenfest, in dem Para-den, Performances, Musik und populäre Bildwelten ineinanderfließen. Eine Parade auf der Whitehall, vorbei an den wichtigsten Regierungsgebäuden Großbritanniens, und ein großes Fest auf dem Trafalgar Square bilden im Juli den fulminanten Abschluss des landesweit ausgelegten Projektes. Die Parade ist voll von Anleihen aus Frühgeschichte, Mythologie, britischer Kunstgeschichte und Popkultur. Angeführt wird sie von einer über fünf Meter hohen Drummer-Puppe, DJ Quingo Starliquinn, gestaltet von Heart n Soul in Zusammenarbeit mit Emergency Exit Arts – ein Beispiel dafür, wie Kunst als inklusives, verbindendes Element wirken kann. Weitere Motive sind eine aufgeblasene Gummipuppe im Stil der britischen Künstlerin Beryl Cook und Performer, die humorvoll riesige Felsbrocken stemmen, als Anspielung auf Stonehenge und uralte Rituale. Traditionelle Figuren treffen auf staatliche Inszenierungen wie die Reiter der Horse Guards und hinterfragen auf subtile Weise soziale Hierarchien, Geschichte und Identität.

Neben Performances, Film, Video und öffentlichen Konzerten gehören seit den frühen 1990er-Jahren Poster, Flyer, Sticker und Fanzines zum bevorzugten Ausdrucksmittel des Künstlers. Tagesaktuell und oft in hoher Auflage produziert, richten sie sich an ein Massenpublikum außerhalb des institutionalisierten Ausstellungsbetriebs. Sie stehen für Dellers zutiefst soziale und demokratische Haltung, wie die Vielzahl kollaborativer Projekte. Mit politischen, sozialen oder humorvoll-ironischen Botschaften spricht er uns direkt an und macht auf gesellschaftliche Themen wie Ungleichheit, Alltagskultur oder historische Ereignisse aufmerksam.

Für die griffelkunst entwickelt Jeremy Deller eine Serie von sechs farbigen, textbasierten Siebdrucken, die auf frühere Projekte verweisen. Für uns hat er sie ins Deutsche übersetzt. Mit seinem typischen Mix aus Witz, Ironie und Gesellschaftsbeobachtung bringt er Sprache in eine visuelle Form, die zwischen Slogan, Statement und Schlagzeile changiert. Lost Children greift eine Aktion auf, die medizinische Hilfen für palästinensische Kinder unterstützt. Die Worte Verlorene Kinder werden zum stillen Appell, die Farbwahl erinnert unweigerlich an die palästinensische Flagge und das dort anhaltende Leid. Es braucht mehr Poesie. ist dagegen ein Aufruf, mitten im pragmatischen, konsumorientierten Alltag Raum für Kreativität und Fantasie zu schaffen. In Geteilte Realität thematisiert Deller die fragmentierte Wahrnehmung in sozialen Medien und macht deutlich, wie bedeutsam gemeinsame Erfahrungen für gesellschaftlichen Zusammenhalt sind. Humorvoll-provokant erscheint Pimmel in Porsches mit sonnengelber Rahmung. Ein wiederkehrendes Motiv in seiner Arbeit ist Stonehenge, welches er u.a. als Hüpfburg nachbaute. Das prähistorische, 4000 Jahre alte Wahrzeichen Englands dient ihm nicht als bloßes historisches Relikt, sondern als Spiegel von Vorstellungen und Geschichten, die sich Gesellschaften über sich selbst erzählen. In seinen Projekten erscheint es zugleich als Symbol für nationale Mythen und kollektive Rituale, jenseits klassischer Königsdynastien.

Eine Zukunft ohne Angst!, übernommen von einem Anti-Atomkraft-Banner aus den frühen 1960er-Jahren, ist nicht nur politisches Statement, sondern holt öffentliche Protestkultur in die Gegenwart. Deller ruft damit zu kollektiver Verantwortung und politischer Teilhabe auf. Die Edition zeigt den Künstler in seiner ganzen Bandbreite: als politischen Künstler, satirischen Kommentator, poetischen Beobachter und sozialen Vermittler. Seine Arbeiten schaffen Räume für Reflexion und verbinden Kunst, Politik und Alltagskultur auf unmittelbare Weise.

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Jeremy Deller

1966 geboren in London, GB,
lebt und arbeitet in London, GB