Einzelblätter
E 578
Flora 1
76,0 × 56,0 cm | 40,0 × 30,0 cm
E 579
Flora 2
76,0 × 56,0 cm | 49,5 × 32,5 cm
Holzdruck, UV-Druck und Siebdruck
Druck: Keystone, Berlin (Holzdruck)
Novak, Berlin (Siebdruck, UV-Druck)
Papierqualität: 250 g/qm BFK Rives
Into the Light
von Stephanie Bunk
Bereits ein Jahr nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen durch W.C. Röntgen wurden 1895 die ersten Gemälde durchleuchtet. 1913 ließ sich ein Arzt die Röntgenuntersuchung von Gemälden patentieren, und bereits 1924 wurden in den größten Museen der Welt, wie der Pinakothek in München oder dem Louvre, Röntgenapparate aufgestellt. Was hat Ärzte und Museen dazu bewogen, Kunstwerke so intensiv zu untersuchen, und was kam dabei ans Licht?
Damals wie heute werden das Röntgenverfahren und seine Weiterentwicklungen vor allem eingesetzt, um durch Materialuntersuchungen Fälschungen zu erkennen und sich bei umstrittenen Werken mit unklarer Geschichte abzusichern. Die Ergebnisse sind verblüffend, wenn auch nicht immer so spektakulär wie bei den Enthüllungen eines Blumenbildes von Van Gogh. Trotz einer Signatur wurde es wegen der überbordenden, ja kitschigen Motivik nicht dem großen Maler zugerechnet.
Doch durch das sogenannte Röntgenfluoreszenz Verfahren konnte ein älteres Gemälde darunter sichtbar gemacht werden, das eindeutig Van Gogh zugeschrieben werden konnte. Zwei Ringer kamen zum Vorschein, die der Künstler, um sie vollständig zu überdecken, unter einer Fülle von Blüten verschwinden ließ. Röntgenaufnahmen von berühmten Kunstwerken wie diesem sind der Ausgangspunkt für eine Serie von Arbeiten, in der sich Johanna Tiedtke mit übermalten Bildern in der Kunstgeschichte befasst. Sie interessiert sich für das geheime Vorleben der Bilder und wirft Fragen nach der Identität von Kunstwerken auf, die über Echtheit und Autorschaft hinausweisen. So wurden Bilder nicht immer so radikal verworfen und übermalt wie bei Van Gogh. Oft handelt es sich um verschiedene Fassungen und Studien oder um Entwicklungen, welche die dargestellte Figur und auch der Maler durchlaufen haben.
Die beiden Einzelblätter, wie auch die Serie von Arbeiten, aus der sie stammen, tragen den Titel Flora. Die römische Göttin der Blüte und des Frühlings, der Jugend und der Fruchtbarkeit wird in der Kunst von Blumen umrankt dargestellt. So hat sie auch Boticelli in seinem Gemälde Primavera verewigt. Anlässlich der Restaurierung wurde auch diese berühmte Darstellung durchleuchtet. Das geisterhaft wirkende Röntgenbild des Porträts der Flora ist der Ausgangspunkt des Blatts Flora 2. Johanna Tiedtke hat es im UV-Druck auf einen Holzdruck gesetzt, sodass die Maserung des Holzes durchscheint. In einer dritten Schicht reagiert sie malerisch auf die beiden ersten Bildebenen, indem sie bestimmte Teile des Bildes hervorhebt oder verschwinden lässt. Dafür verwendet sie eine weiße, leicht glänzende Farbe, wie sie auch für die Restaurierung von Kunstwerken verwendet wird, etwa zum Auffüllen von Leerstellen. Diese Farbe wird im Siebdruck übertragen. In Flora 2 legen sich gemalte Blüten wie ein (Braut)Schleier über das Bild. In Flora 1 wirkt die Farbe wie Regentropfen, die sich als schimmernde Schicht über das Motiv ziehen. Alle drei Schichten sind transparent, lasierend gedruckt, sodass sie einander ergänzen und die Porträts wie Traumbilder wirken lassen. Bereits in der von ihr 2018 für die Projekt-Reihe entwickelten Edition mit dem Titel Käthe, bestehend aus sechs Glasscheiben, hat sich Johanna Tiedtke mit der Sichtbarmachung von Vergessenem und Verdrängtem beschäftigt. Mit den beiden Einzelblättern setzt sie ihre künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Themen fort, indem sie in die Tiefenschichten der Malerei und den Prozess des Malens eindringt. Sie eignet sich die klassischen Frauenporträts an, indem sie diese in der Geste des Übermalens neu erfindet.
Audioguide
Projekt-Reihe
371./372. Wahl
III./IV. Quartal 2018
UV-Print auf Glas
15,0 × 12,3 × 0,3 cm
Käthe
P63 Käthe 1
P64 Käthe 2
P65 Käthe 3
P66 Käthe 4
P67 Käthe 5
P68 Käthe 6
Hersteller UV-Print: Weidling, Berlin
Hersteller Glaszuschnitt: Wolfgang Pagel, Hamburg
Glasqualität: SCHOTT Mirogard
Hersteller Box: Norddeutsche Pappscheibenfabrik Synatschke & Sohn, Hamburg
Lose Enden
von Stephanie Bunk
Malerei, Photographie und verschiedene analoge und digitale Drucktechniken verbinden sich im Werk von Johanna Tiedtke und transformieren zu einer neuen, vielschichtigen Bildsprache. Zwar nutzt die Künstlerin auch die klassischen Techniken der Druckgraphik, doch die Druckergebnisse haben mit klassischen Graphiken wenig gemein. So erinnern ihre UV-Ducke auf Glas eher an Cyanotypien als an Radierungen, die bei der Entstehung eine zentrale Rolle gespielt haben. Die Motive gehen zurück auf die letzte Handarbeit im Leben ihrer Großtante Käthe, die bis ins hohe Alter gestickt hat.
Sie entstand, als diese bereits dement war und spiegelt die unterschiedlichen Stadien des Erinnerungsverlustes wider. Die einzelnen Muster verändern sich stark im Laufe der Arbeit, Motive und Ornamente verlieren sich
und werden an anderer Stelle wieder aufgegriffen. Diese Stickerei hat die Künstlerin gescannt und digital bearbeitet. Den von ihrer Großtante unfreiwillig begonnenen Prozess der Auflösung des Motivs hat sie fortgeschrieben, indem sie einzelne Kreuzstiche in Pixel übersetzt hat, während sie andere verschwinden ließ. Die so entstandenen Vorlagen hat sie in Zinkplatten radiert und anschließend gescannt. Das Licht des Scanners bricht sich in den entstandenen Vertiefungen so, dass sie auf dem Scan als weiße Linien zu sehen sind. Auch Materialunebenheiten oder Fingerabdrücke auf der Zinkplatte werden im Scan als weiße Flecken sichtbar. Anschließend hat die Künstlerin einzelne Motive übereinandergelegt und in UV-Druck auf Glas überführt.
Die einzelnen Glasarbeiten entsprechen zusammengesetzt dem Format der ursprünglichen Stickarbeit. Einzeln verstärken sie den fragmentarischen Charakter der Vorlage, die auch ein Sinnbild für den Prozess des Erinnerns und des Vergessens ist. Das Überlagern und Überschreiben verschiedener Zeit- und Motivebenen, die Johanna Tiedtke auch in der Stickerei ihrer Großtante vorgefunden hat, setzt die Künstlerin ein, um die Leerstellen und die losen Enden im Gedächtnis sichtbar zu machen. Sie nähert sich mit dieser Arbeit nicht nur dem Thema Demenz. Durch das Arbeiten in Schichten versucht sie auch die verschiedenen Ebenen des allmählichen Vergessens sichtbar zu machen, etwa das gezielte Verdrängen von Traumata, die in der Folge des Zweiten Weltkriegs entstanden sind und sich als ein Schweigen nicht nur über diese, sondern auch über nachfolgende Generationen gelegt haben. In dem Zyklus über ihre Großtante Käthe, an dem Johanna Tiedtke seit 2014 arbeitet, sucht die Künstlerin nach einer Bildsprache, die das Unausgesprochene, Verdrängte und Vergessene sichtbar werden lässt.
Weitere Arbeiten aus der Werkgruppe Käthe zeigen wir in unserem Kunstraum in der Seilerstraße. Unter anderem wird dort eine für den Raum entwickelte großformatige Glasarbeit zu sehen sein. Begleitend zu der Griffelkunst-Edition und der Ausstellung im Kunstraum erscheint Portfolio No11. Dabei handelt es sich um ein von der Künstlerin konzipiertes Künstlerbuch, das den Entstehungsprozess der Serie Käthe nachvollziehbar macht und einen tieferen Einblick in ihr Werk ermöglicht.
Johanna Tiedtke, 1981 in Eckernförde geboren, lebt und arbeitet in Berlin
2018 DAAD-Stipendium
2017 Tisa von der Schulenburg-Preis, Dorsten
seit 2016 Studio Program, Elizabeth Foundation for the Arts, New York
2016 MFA HfbK, Hamburg
MFA, Milton Avery Graduate School of the Arts, Bard College, New York
2012 Diplom HfbK, Hamburg
Ausstellungen
2018 Lucciole, Zeche Zollverein, Essen (E)
Regionale IV, PAK – Kunstverein Glückstadt
2016 Salon der Gegenwart, Hamburg
2015 Bearing. Traces of [Dis]location (mit Bernd Klug), Austrian Cultural Forum, NYC
Hanna Burow, Overbeck-Gesellschaft, Kunstverein Lübeck (E, K)
2014 Von anderen Welten, Galerie der Stadt Remscheid (E)
2013 Der Morgen stirbt nie (mit Tammo Winkler), Künstlerverein Malkasten, Düsseldorf