A-Reihe, 396. Wahl
IV. Quartal 2024
Photographie im Inkjet-Print
Papierqualität: 300 g/qm Hahnemühle FineArt Baryta Satin
Druck: PigLab, Hamburg
Mappe: Buchbinderei Thomas Zwang, Hamburg
Bilder aus dem toten Winkel
Über die Photographien von Miron Zownir
von Petra Schröck
Es gibt zeitgenössische Photographien, die man im Vorübergehen wahrnimmt, um sie bald wieder zu vergessen. Und es gibt photographische Bilder, die einen kalt erwischen, die aufwühlen und ein unbestimmtes Nachglühen im Betrachtenden auslösen. Eine andersartige, sehr präsente Welt berührt die eigene mit ungeheurer Wucht. Miron Zownirs künstlerische Welt ist so eine Welt, die seit über einem halben Jahrhundert kompromisslos von seinen ureigenen Visionen und Vorstellungen als Photograph, Filmemacher und Schriftsteller bestimmt wird. Seine Photographien in messerhartem Schwarz-Weiß sind unverkennbar und von nahezu physischer Anziehungskraft, frei von dekorativer Willkür und Zugeständnissen an die Gefälligkeit des Publikums. Dabei stehen vor allem Menschen im Zentrum seiner Aufmerksamkeit, Nicht- Wahrgenommene, Stigmatisierte und Außenseiter der Gesellschaft, die gemeinhin verfemt, tabuisiert und übersehen werden. Sie suchen nach Erlösung und Orten des menschlichen Da-Seins und sind in ihrer Versehrtheit und körperlichen Präsenz auf Zownirs Bildern spürbar. Das hinter dem harten Stoff der Wirklichkeit auch Poesie durchschimmert, ist dem empathischen Blick und der Offenheit des Photographen zu verdanken, die bei aller zivilisatorischen Düsternis auf die existenziellen Fragen des Menschseins hinzielen.
Ein unvermutetes Sujet bildet den Auftakt der von Miron Zownir ausgesuchten sechs Photographien für die vorliegende Publikation. Eine Ponydressur auf offener Straße im West-Berlin der späten 1970er Jahre. Das blonde Pony überragt den Dompteur, sodass die Nüstern auf Augenhöhe mit seinem Gesicht sind. Mensch und Tier agieren vertrauensvoll miteinander. Im Hintergrund Nachkriegsbauten, fahrende Autos, ein Doppeldecker-Bus und ein paar Passanten. In dieser frühen Aufnahme fungiert bereits der großstädtische Raum als Bühne des absurden Welttheaters, das den umtriebigen Photographen von Anbeginn interessiert. Der 25-jährige Wahlberliner schlug sich zu Beginn seiner Laufbahn mit Hilfsarbeiterjobs durch und lebte in prekären Verhältnissen. Da es mit einem Filmstudium nicht klappte, begann er draußen zu photographieren: verlassene Brachen, kaputte Häuser, leere Straßenschluchten und triste Hinterhöfe mit vereinzelten Menschen - spielende Kinder, einsame Alte, Schlafende, Trinkende, Wütende und immer wieder Menschen am Boden hockend, liegend, gestikulierend, stürzend. Schräge Typen, Gestalten der Subkultur und Polizeigewalt auf der Straße. Über allem hingen noch die baulichen Narben und die Schwermut der Nachkriegszeit. West-Berlin war damals ein Zufluchtsort für Eigenbrötler, Totalverweigerer, Tagelöhner, die im spezifischen Inseldasein ein Leben jenseits ökonomischer Zwänge suchten.
Zownirs Blick ist ästhetisch. Er beobachtet, beleuchtet und enttarnt zugleich. Mitten in der Nacht und am helllichten Tag zieht er mit der Kamera umher und erkundet verborgene Lebens- und Erfahrungsräume. Geprägt von einer Nachkriegskindheit bei den Großeltern in einer Arbeitersiedlung nahe Karlsruhe, sammelte er früh kafkaeske Erfahrungen mit seiner zerrissenen Familie von Kommunisten und Nazis, mit Verwandten, Anwohnern und Nachbarn und dem Anblick von Menschen mit Behinderungen, Kriegsveteranen und grotesk deformierten Körpern, die ihn nächtelang nicht schlafen ließen. Menschen zwischen Wirklichkeit und Traum, verwurzelt mit der Erde und dem Milieu, dem sie entstammten. Diese Erinnerungen sollten ihn nachträglich beeinflussen und das Repertoire bestimmen, das »theatralisch durchwirkt« bis heute seine Arbeit auszeichnet (Gaetano La Rosa. Anbetung und Hohn. Das Lebenstheater des Miron Zownir. Pogo Books, 2021, S. 14). Was daraus im Laufe der Jahrzehnte entsteht, ist viel mehr als Straßenphotographie. Es ist die künstlerische Auseinandersetzung mit den Verwerfungen eines Systems, das Menschen sich selbst überlässt, sodass sie sich mit ihrem Ausgesetztsein arrangieren müssen. So stehen die sechs Aufnahmen aus fünf Millionen-Metropolen aus fünf Jahrzehnten exemplarisch für sein Gesamtwerk. Verheißungsvolle Schauplätze, an denen Schrecken und Ekstase, Gewalt und Überlebenskampf über Zeitensprünge hinweg zusammenspielen. In der Abfolge betrachtet, wird Zownirs filmisches Denken in formalen und narrativen Sequenzen deutlich, das seit seinem fulminanten ersten Photoband Radical Eye (1998) in allen seinen Photobüchern zum Tragen kommen sollte.
(Auszug aus dem Textheft zur Mappe)
Miron Zownir
1953 geboren in Karlsruhe, lebt und arbeitet in Berlin