C-Reihe, 395. Wahl
III. Quartal 2024
Dear Cella
Lithographie
62,0 × 46,2 cm / 55,5 × 39,5 cm (C1–5)
46,2 × 62,0 cm / 38,5 × 54,0 cm (C6)
Papierqualität: 250 g/qm Somerset Bütten
Druck: Tabor Presse, Berlin
Mappe: Reset St. Pauli Druckerei, Hamburg
HOMMAGE AN DIE PFLANZENZELLE
Julia Oschatz verknüpft unterschiedliche Medien wie Zeichnung und Malerei, Video und Performance zu raumgreifenden Installationen. Die Zeichnung bildet dabei den Ausgangspunkt. Auf dem zweidimensionalen Papier entwickelt die Künstlerin Ideen, Handlungsanweisungen und Abläufe, die sie anschließend im Raum umsetzt. Auch ihre dreidimensionalen Arbeiten wirken durch den Einsatz einfacher, reduzierter Materialien wie Pappe und Karton sowie die Beschränkung auf ein Schwarz-Weiß-Spektrum wie Modelle. Sie eröffnen einen Denkraum, statt etwas abzubilden oder zu spiegeln, was man bereits aus anderen Darstellungsformen, wie z.B. denen der Wissenschaft, zu kennen meint. In ihrem Projekt Dear Cella, zu dem auch die sechs Motive für die griffelkunst gehören, beschäftigt sich Julia Oschatz mit den Prozessen in einer Pflanzenzelle. Aus Pappkartons baut sie diesen kleinsten Baustein des Lebens so groß nach, dass er zum »Arbeitsplatz« für eine menschliche Figur wird. Welche biochemischen Vorgänge sie dabei performt und welche Rolle die Room-Service-Figur spielt, hat Brigitte Bedei Julia Oschatz in einem Interview per E-Mail im August 2024 gefragt.
griffelkunst: In deinen Lithographien widmest du dich dem kleinsten Raum der biologischen Welt, der Zelle. Die Vorgänge in ihrem Inneren, die sonst verborgen bleiben, führst du als eine Art Performance oder Theaterstück auf. Die Zellen werden zur Bühne. Was wird inszeniert und wer tritt auf?
Julia Oschatz: Die Lithographien sind Teil meines Dear Cella-Projektes, das sich als Hommage an die Pflanzenzelle versteht und auch Zeichnungen, Videos, Objekte, Malerei innerhalb einer Installation beinhaltet. (Etwa im Maßstab von 1:27 Billiarden) Vom Prinzip her sehe ich es eher andersherum: Nicht die Zelle wird Bühne, sondern die Bühne wird Zelle. Das Drehbuch wird von den biochemischen Vorgängen geschrieben, aber unter der Bedingung, dass es durch die Übersetzung in Karton, Farbe, Ton, Tusche etc. und durch mein menschliches Können und Denken unzulänglich wird. Die dadurch sichtbar werdende Lücke zwischen naturbedingter Perfektion und Komplexität einerseits und der menschlichen Beschränktheit andererseits, ist auch in vielen meiner früheren Arbeiten ein zugrunde liegendes Thema. Die Lithographien sind gezeichnete Video- Stills und visualisieren die Situationen der Vorgänge/Handlungen in oder an den verschiedenen Organellen einer Pflanzenzelle. So wird z.B. ein Chloroplast durch den Versuch, Licht (weiße Farbe) aufzufangen, nachempfunden. Der Tonklumpen, der die Farbe auffängt, wandert weiter zum nächsten Schritt, wo er vom Mitochondrium mit Zucker versetzt wird. Wieder ein Video oder Blatt oder Schritt weiter, beim Golgi-Apparat, wird Protein in Form von Bohnen eingeknetet und durch eine Transportkette versendet. Von dort gelangt es zur Zellwand, die es platt walzt und mit den Fladen ihre Poren schließen kann.
griffelkunst: In dem einzigen Querformat der Serie scheinen sich alle Bestandteile auf einem Blatt zu vereinen. Hier betritt die Room-Service-Figur den Schauplatz. Welche Rolle spielt sie?
Julia Oschatz: Die RSF (Room-Service- Figur) verbindet die Handlungen. Sie ist Motor, Lebensenergie, tritt im Dunkeln auf und wäre unsichtbar, wenn sie nicht abgebildet worden wäre.
griffelkunst: Alle Beteiligten tragen eine Kopfbedeckung. Auch in deinen Videos sieht man dich selbst häufig mit überdimensionierten, fast surrealen Headgears. Welche Funktion haben diese humorvollabsurd wirkenden Helme?
Julia Oschatz: Für mich sind es weniger Helme oder Kopfbedeckungen, sondern Kopfersatz, bzw. neuer Kopf. Diese neuen Köpfe beschränken das gewohnte Sehen, Hören und Handeln und erzwingen Bewegungen, die ein Nicht-können, ein Tasten oder Straucheln in der ganzen Figur erzeugen. Die dem Kopf meist innewohnende neue Handlungsmöglichkeit, z.B. durch eine einfache Mechanik, wird erst im Augenblick der Aufzeichnung erlernt und überrascht auch mitunter durch ihr Nicht-funktionieren.
Auch Bühnenbilder und Theaterräume gestaltet Julia Oschatz auf diese Weise. In der kommenden Spielzeit ist sie für die künstlerische Raumgestaltung des MalerSaals im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg verantwortlich. Die Künstlerin verwandelt den Gang, das Foyer und den MalerSaal in ein begeh- und bespielbares Environment: die »Realnische 0«.
Julia Oschatz
1970 geboren in Darmstadt, lebt und arbeitet in Berlin und Sandau/Elbe