B-Reihe, 395. Wahl
III. Quartal 2024
a chair 6 events, 1968/2024
Prägedruck mit Radierung und Klischeedruck
rückseitig Signaturstempel
Papierqualität: 300 g/qm Hahnemühle Alt Worms
Druck: Atelier für Druckgrafik, Wedel
Mappe: Reset St. Pauli Druckerei, Hamburg
DRAW / MOVE / CARRY / OFFER A CHAIR … WAS MACHT MAN MIT EINEM STUHL?
von Marc Schulz
Stühle sind im Alltag der ›alten Welt‹ allgegenwärtig und zugleich ein populäres Statussymbol. Historisch betrachtet ist der Stuhl in seiner ersten Form, dem Thron, die symbolische Darstellung des erhöhten Sitzens über andere. Der Stuhl ist also ein Zeichen von Macht, was sich nach wie vor in Begriffen wie »Der heilige Stuhl« oder »Lehrstuhl« zeigt. Auch deshalb sind Stühle prominente Gegenstände des Kunsthandwerks bis in die heutige Zeit. So schmücken etwa Designklassiker der (Post)Moderne als Sitzgelegenheiten die ›heiligen Hallen der Kunst‹ sowie deren Gastronomie, und nicht selten werden diese Designobjekte als Zeichen von gutem Geschmack und Wohlstand präsentiert.
Die Stühle der mit der Fluxus-Bewegung assoziierten japanischen Künstlerin Takako Saito sind hingegen profan – es ist alltägliche Dutzendware, die in zahllosen Möbelgeschäften oder bei Trödlern erstanden werden kann und deren Designer unbekannt ist. Die Frage ist hier also nicht: Was für ein besonderer Stuhl ist das?, sondern: Was lässt sich mit einem Stuhl alles machen? Damit reihen sich die sechs Motive der Griffelkunst-Edition aus dem Zyklus a chair 10 events (1968) in den Forschungscharakter einer experimentellen und konzeptuell ausgerichteten Kunst der 1960er Jahre ein: So komponierte etwa La Monte Young 1960 das Stück Poem for Chairs, Tables, Benches, Etc. (Or Other Sound Sources), in welchem die Musiker und Musikerinnen Stühle und andere Gegenstände durch den Raum schieben, während Joseph Kosuth 1965 mit One and Three Chairs die Frage nach Präsentation und Repräsentation stellte.
Die Stühle von Takako Saito wiederum beziehen sich auf die chair events ihres Fluxus-Weggefährten George Brecht (1926–2008), die auf kleinen Ereignis- Kärtchen in der Schachtel Water Yam erstmals 1963 veröffentlicht wurden. Auf jeder Karte befindet sich eine Anweisung oder ein Szenario, welches die Teilnehmenden ausführen oder sich vorstellen können. Diese Anweisungen sind bewusst offen und interpretierbar gestaltet, sodass jede Person sie auf eigene Weise umsetzen kann.
Zwei dieser Kärtchen schlagen konzeptuell als Ereignis das Arrangement von Objekten auf einem Stuhl vor. Gedanklich von diesen Spuren ausgehend, führt Takako Saito sowohl die Unsichtbarkeit des alltäglichen Gegenstands Stuhl auf, indem sie ihn im Blindprägedruck haptisch als Papierrelief erscheinen lässt, als auch die Poesie der sich ereignenden Verbindungen, radiert als feine Linienzeichnungen. Zugleich war die konservative Technik der Radierung für eine konzeptuell ausgerichtete Kunstrezeption eine Provokation. Dieser Teil ihres Werkes wurde, ähnlich wie ihr zeichnerisches und malerisches Werk, schlicht nicht wahrgenommen. Stattdessen wurde Takako Saito insbesondere mit den hunderten Variationen von Schachspielen, die sie seit 1963 entwickelt hatte, sowie ihren interaktiven Objekten bekannt, die mit der Fluxus-Bewegung in Verbindung gebracht werden.
Takako Saito hat jedoch seit ihren künstlerischen Anfängen in Japan mit verschiedenen Drucktechniken gearbeitet: Ab 1954 fertigte sie auf ihrer eigenen kleinen Druckpresse Radierungen im expressionistisch-modernistischen Stil an, die ab 1957 ungegenständlicher wurden, erheblich beeinflusst von der demokratischen So-bi-Kunstbewegung und Ei-Q. Kurz vor ihrer Übersiedlung nach New York 1963 radierte sie noch einen großen Zyklus an planetaren Motiven. In New York konnte sie ab 1967 wieder die Technik des Radierens aufnehmen, da sie als Studentin der Art Students League of New York Zugang zu einer Druckpresse hatte. Auch in den 1970er Jahren in Italien und später, ab den 1980er Jahren in Düsseldorf, wo sie inzwischen 95-jährig nach wie vor lebt, führt sie immer wieder das Drucken in Eigenregie weiter fort.
Takako Saito
1929 geboren in Sabae, Präfektur Fukui, Japan, lebt und arbeitet in Düsseldorf