C-Reihe / 353. Wahl I. Quartal 2014
Schwarzweiß-Photographien aus dem Nachlass
1. ohne Titel, New York, 1974 39,5 x 29,5 cm / 27,5 x 19,0 cm
2. ohne Titel, New York, 1974 29,5 x 39,5 cm / 19,0 x 27,5 cm
3. ohne Titel, New York, 1974 39,5 x 29,5 cm / 27,5 x 19,0 cm
4. ohne Titel, New York, 1974 29,5 x 39,5 cm / 19,0 x 28,0 cm
5. ohne Titel, New York, 1974 39,5 x 29,5 cm / 28,1 x 19,0 cm
6. ohne Titel, New York, 1974 29,5 x 39,5 cm / 19,0 x 28,0 cm
Papierqualität: Foma
Hersteller: Larry Lazarus, Hamburg
Mappe: Archivkarton mit Leinenrücken
Hersteller Mappe: Buchbinderei Zwang, Hamburg
Tempo und Pause. Über die New Yorker Bilder von Dirk Reinartz, 1974
von Ulf Erdmann Ziegler (Auszug aus dem Textheft zur Mappe)
Dirk Reinartz war dran, nicht Tourist und nicht Reporter, er sah den Glanz im Chrom und das Licht in einem weißen Kragen; die plattgetretenen Kaugummis und das hautkranke Straßenpflaster. Wer damals jung war und es als Künstlerphotograph zu etwas bringen wollte, stürzte sich genau auf diese Dinge, lockende und drohende Symbole in Schwarzweiß, übersetzt in einen letzten Aufguss von Surrealismus – während Dirk Reinartz all die augenfälligen und beiläufigen Signale einfach mitnahm, im Vordergrund, im Hintergrund. Unterdessen beobachtete er die Tätigkeiten, die Standards und die Kuriosa, den Modus von Tempo und Pause. Alles immer gespiegelt in seiner eigenen, keineswegs unsichtbaren Tätigkeit: ein großer, schnauzbärtiger Mann mit zwei Nikons um den Hals. Erstaunlich ist allerdings, wenn man zurückschaut, wie überaus genau der städtische Raum abgebildet wird auf einem zeitlichen. Wie Reinartz’ Bilder aus dem Hamburger Stadtteil St. Georg sind auch die Bilder aus New York durchtränkt von der Patina jener Zeit, ohne davon Aufhebens zu machen, also eine Mode zu feiern. Ich glaube nicht, dass er sich diese Art zu schauen vorgenommen hatte, sondern dass es seine Art war. Gegenwart war sein Ding. Er stand mit beiden Beinen auf der Erde, wissend, dass sie sich dreht.
Diese Fähigkeit, Unmittelbarkeit herzustellen, wo sie eher unwahrscheinlich ist, war eben genau seine. Er blickte weit und verwies dennoch auf das Greifbare, wissend, dass es sich um ein Pars pro toto handelte. Selbstverständlich kannte er die photographischen Ikonen New Yorks: die Straßenkinder von Helen Levitt und die Schaubudenfreaks von Diane Arbus. Das in eine Baumgabelung geschobene Bügeleisenhochhaus von Alfred Stieglitz; das Selbstporträt Lee Friedlanders als 5th-Avenue-Stalker. Der bildhafte Reflex reisender Photographen ist, sich Objekte zu suchen, die bekannten Bildern gleichen, und sie sich auf diese Weise anzueignen. Der Photograph aus Hamburg aber erkannte: Die menschliche und die gegenständliche Welt musste aus dem Fundus des schon Geschauten herausgelöst werden. Ihm war völlig klar, dass es dem Mann von der Straße nicht gerecht wird, wenn man ihn nötigt, in eine Bildikone von Lewis Hine oder Robert Frank zu schlüpfen. Besser ist es umgekehrt: Man lässt ihn aus dem Bild heraustreten, das ihn gefangen hält. Ein Akt der Belebung, der auf gewisse Trends visueller Eleganz liebend gern verzichtet. [...]
Die Bilder aus New York zeigen ihn – mit 27 Jahren – auf der Suche nach einer bildlichen Sprache, die nur ihm gehört. Das Rastersystem Manhattans beschleunigt die Suche. Die Nähe von Reichtum und Armut, von Glanz und Abglanz, von großer Geste zum kleinen Los sind die Markenzeichen dieser Stadt, die zugleich immer nach dem Neuen jagt und das Archaische unfreiwillig ausstellt. So einfach und klar hat er die Menschen dieser Stadt porträtiert, man sollte sie dreidimensional ausformen und in Bronze gießen. Damit man sie berühren kann. Das war die Photographie von Dirk Reinartz: staunend und ohne Vorurteil, eine Schule zugleich des Blicks und des Lebens.
Dirk Reinartz, geboren 1947 in Aachen, nimmt nach einer Ausbildung zum Photographen ein Studium der Photographie bei Otto Steinert an der Folkwangschule in Essen auf. Als jüngster Reportagephotograph wird er 1970 in der Redaktion des stern eingestellt, wo er bis 1977 arbeitet. Im selben Jahr schließt er sich der Photographengruppe VISUM an, von der er sich 1982 wieder trennt, um fortan ganz unabhängig zu arbeiten. Sein Interesse gilt vor allem Deutschland und seiner Geschichte. Zahlreiche Bücher widmet er deutschen Themen wie z.B. Kein schöner Land. Deutschlandbilder (1989). Der eindrucksvolle Zyklus totenstill (1994) über ehemalige Konzentrationslager wurde bisher international an 25 Orten gezeigt, darunter die Neue Nationalgalerie in Berlin. Bemerkenswert ist auch seine Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Bildhauer Richard Serra, dessen künstlerische Arbeit er über zwei Jahrzehnte weltweit mit der Kamera begleitet. Reinartz lehrt Photographie bis zu seinem Tod im März 2004 an der Muthesius-Hochschule in Kiel. Posthum erscheint im Steidl Verlag 2007 das Buch zur Serie
New York 1974.