Einzelblätter
Siebdruck
E 580
ohne Titel, 1965/2022
63,0 × 63,0 cm | 48,0 × 48,0 cm
E 581
ohne Titel, 1966/2022
70,0 × 50,0 cm | 60,0 × 40,0 cm
Druck: 1×2 Siebdruck, Martin Samuel, Berlin
Papierqualität: 240 g/qm Munken Pure
Jeder Teil des Buchstabens ist Poesie
von Karla Keller
Schon als Kind faszinierten Hansjörg Mayer die großen Walzen und Gerüche in der Druckerei seines Großvaters, dort entdeckte er auch sein besonderes Interesse an den Produkten des Zufalls: Mayer sammelte Vorlaufbögen, die unterschiedlich dicke Farbschichten oder unbeabsichtigte Anordnungen von Farbe und Motiv aufweisen. Je absurder die Komposition, desto besser gefiel sie ihm. Er verwendete für seine künstlerische Arbeit alles, was der Zufall ihm zuspielte (es durfte auch Müll sein): Texte, Typen, Kontakte. Unter dieser Maxime verlegte Mayer in der edition hansjörg mayer einige Künstlerbücher, entschied meistens spontan, mit wem er zusammenarbeitete und setzte Gedichte in Szene, die ihm in die Hände fielen. Das Selbstgeschriebene oder -gedichtete interessierte ihn weniger als die typographischen Umsetzungen von literarischen Produkten anderer. Er gilt als ein wichtiger Vertreter der konkreten und visuellen Poesie, die er mit seinen Drucken und seinem experimentellen Umgang mit Buchstaben maßgeblich prägte. Der gebürtige Stuttgarter treibt die visuelle Poesie mit seinen Werken auf die Spitze, indem er die Semantik aus seinen Drucken komplett verbannt: Wörter werden in ihre Einzelteile zerlegt und Buchstaben auf die Grundformen Kreis und Linie reduziert. Durch die Abstraktion einzelner Buchstaben widmet sich Mayer auf dekonstruierende Weise alltäglichen Dingen und entzieht ihnen jegliche Bedeutung.
Wir stellen Ihnen Hansjörg Mayer in dieser Wahl mit zwei Einzelblättern im Siebdruck vor, die auf zwei druckgraphische Arbeiten des Künstlers zurückgehen. Er spielt in beiden Werken mit unserem Verlangen, Buchstaben entziffern und Wörter lesen zu wollen. Im ersten Motiv E 580 hat Mayer das Alphabet als quadratischen Block angeordnet und diesen im Buchdruckverfahren so übereinandergelegt, dass sich die Ausrichtung der Buchstaben bei jedem Druckvorgang um 90 Grad dreht. Auch die Farben variieren, sodass sich die Buchstaben trotz Schichtung voneinander abheben. Was auf den ersten Blick durch Linien und Zeilen noch lesbar erscheint, lässt sich auf den zweiten Blick nicht mehr entschlüsseln. Anfang und Ende, Oben und Unten bleiben für die Betrachtenden verborgen. Durch die Farbauswahl und das Schichten
der Farben von dunkel zu hell erzielt Mayer Tiefenwirkung und bringt Räumlichkeit ins Bild.
Unter Verwendung des Photosatzes druckt Hansjörg Mayer bei dem zweiten Motiv Buchstaben auf einen Positivfilm. Die Buchstaben sind kaum noch zu erkennen, lediglich Striche und Bögen, die an die Grundformen unserer Schriftzeichen erinnern, bleiben erhalten. Einen verschwommenen aber plastischen Effekt schafft Mayer durch das Verschieben der Buchstaben während der Belichtungszeit. Die Buchstaben kommen kaum zum Stillstand. Meint man, einen Buchstaben erahnen zu können, schiebt sich die nächste Form darüber und der Buchstabe verläuft ins Leere oder wird unnatürlich langgezogen. Die Zufälligkeit des Entstehungsprozesses spiegelt sich in der Anmutung des Blattes wider: spontane, hektische Bewegungen, die abrupt beginnen und enden. In den seltensten Fällen sind tatsächlich Schriftzeichen zu erkennen, vielmehr sieht man abstrakte Bildzeichen.
So zieht sich der Zufall durch Hansjörg Mayers gesamtes künstlerisches Werk,von den Vorlaufbögen aus der Druckerei seines Großvaters bis zur Anordnung der bewegten Buchstaben. Mayer reduziert mit seiner Arbeit die konkrete Poesie auf ihre Grundlagen: Form, Farbe und Technik.
Hansjörg Mayer
1943 geboren in Stuttgart,
lebt und arbeitet in London, GB