Einzelblatt
Farblithographie
E 506
Schlundschocker
71,0 x 85,0 cm
Papierqualität: 270 g/qm Alt-Meißen Zerkall-Bütten
Drucker: Tabor Presse, Berlin
Horror vacui
von Dirk Dobke
Sonja Alhäuser war bereits 2006 mit einer Edition bei uns vertreten. Damals zeigte sie jene, für sie typische, prozesshaft-comicartige Bilderzählungen, die sie mit vermeintlich leichtem Strich zeichnet und farbig aquarelliert. Neben ihren Skulpturen aus Lebensmitteln gehören diese detailverliebten Erzählungen zu ihren bekanntesten Arbeiten. Variantenreich entwickelt sie darin sinnenfrohe, lustvolle und erotische Reigen – und schildert gleichsam das ihnen zugedachte Ende. Was froh und orgiastisch beginnt, endet zumeist im Kater nach dem Rausch, oder gar mit dem Tod. Indem die Künstlerin alles gleich farbenfroh und mit leichter Hand entwickelt, versüßt sie dem Betrachter jene Schrecken, die das Schicksal noch in der Hinterhand hat. Wenn Hermann Hesse dichtet, dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt, so fügt Sonja Alhäuser ihm mit ihren Zeichnungen hinzu, dass jedem Anfang eben auch immer schon sein Ende innewohnt. In ihren Rezeptzeichnungen formuliert die Künstlerin diese Prozesse genüsslich aus, wenn sie zunächst ein putziges Häschen zeigt, dann aber seine Schlachtung, das Ausweiden und schließlich die Zubereitung und das Essen des fertigen Gerichts. Mit ihrer überbordenden Phantasie führt uns die Künstlerin in ihren Skulpturen, Filmen und Perfomances immer wieder neue Spielarten dieses ewigen irdischen Kreislaufs von Werden und Vergehen vor.
Der Schlundschocker wirkt malerischer als Alhäusers bisherige Arbeiten, fast abstrakt. In einer amorphen Form zeigt sich ein mit spitzen Zähnen bewehrter Schlund. Erst beim Nähertreten definieren sich die für die Künstlerin typischen anspielungsreichen Details: Kinderspielzeuge und Kuscheltiere liegen zwischen Totenschädeln und schmelzenden Schneemännern, darüber zwei sich endlos ineinander ergießende Weinkrüge, neben ebenso endlos ineinander speienden Köpfen… An den abgetrennten Schädeln hängen noch Speiseröhre und Magen, fast ornamental ausgebreitet. Die spitzen Zähne des Mauls werden in der näheren Betrachtung zu triefendem, fädenziehendem Glibber. Der Tod tritt heran und genehmigt sich ein Gläschen davon ... Das aus der Ferne Bedrohliche wird in der Nähe noch ins Ekelige gesteigert. Oben auf dem Maul, zwischen den kleinen Augen des Monsters, treten drei Protagonisten aus der Edition von 2006 erneut auf: Hase, Bär und Katze waren in dem Blatt Warme Wonne (322 C2) possierliche Wärmflaschenhüllen, die im Wortsinn wie im Übertragenen die schutzlos skelettierte Frau wärmen und behüten sollten. Im Schlundschocker sitzen sie resigniert und vom Betrachter abgewandt da. Mit einem Mal erscheinen die sonst so präzisen, schrittweise entwickelten Ketten aus Zwangsläufigkeiten gesprengt. Der Schlundschocker ist bereits die Hölle, ihm fehlt die Euphorie des Anfangs. Als Horror vacui bezeichnet man in der Kunst die Furcht vor der (bildlichen) Leere, gern verwendet für die überbordenden Szenerien der Barockmalerei. Bei Sonja Alhäusers Blatt kommt einem sofort Hieronymus Boschs Hölle im Garten der Lüste in den Sinn. Wenn uns die Künstlerin bislang vorführte, wie das, was froh beginnt, oft in der Tragödie endet, so ist der Schlundschocker bereits das Endstadium. Hier kreist das Böse nur noch um sich selbst, und sein Sog zieht in den Schlund, am Knochenmann vorbei, ins leere Nichts.
C-REIHE, 322. Wahl, II. Quartal 2006
Farblithographien, vierfarbig, 2006
1. Knisterwerk, 29,0 x 45,5 cm
2. Warme Wonne, 29,0 x 45,5 cm
3. Pure Liebe, 29,0 x 45,5 cm
Papierqualität: Zerkall Bütten 250 g/qm
Drucker: Felix Bauer, Köln
Sonja Alhäusers Tableaus erinnern an Darstellungen aus der Wissenschaft, doch sie analysiert und seziert den Körper nicht mit wissenschaftlichem Interesse. Im Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung steht die Verführbarkeit und Sinnlichkeit des Körpers und seine Reaktion auf die verschiedenen äußeren Einflüsse, denen er ausgesetzt ist. Die Zubereitung, der Genuss und die Verdauung von Lebensmitteln spielen dabei eine große Rolle. Kulinarischen Erlebnissen widmet sie sich mit großer Liebe zum Detail und lässt die Besucher ihrer Ausstellungen häufig nicht nur visuell daran teilhaben: Aus Köstlichkeiten wie Schokolade und Marzipan formt die Künstlerin Pralinen, Figuren und Ausstellungsinventar, das nach der Benutzung verzehrt werden kann. Oder sie reicht dem staunenden Publikum Cocktails, deren Rezepte sie in ihren Arbeiten bildhaft festhält. Dabei belässt sie es nicht bei der Darstellung des Herstellungsprozesses, sondern beschreibt den Weg der Substanzen in den Menschen hinein und wieder hinaus. „Was passiert dann?“ scheint die Künstlerin zu fragen und folgt den ablaufenden Prozessen bis in den intimsten Winkel.
Besonders spannend wird ihr Vorgehen, wenn es sich bei dem äußeren Reiz um einen Vertreter des anderen Geschlechts handelt, um die Erfahrung von Sexualität. Nicht selten wird auf ihren Bildern geküsst. Das Prozesshafte der Interaktion zweier Körper zeigt sich dabei vor allem als ein Nebeneinander, als Gleichzeitigkeit von Handlungen und Abläufen. Innerhalb eines Motivs wird erzählt, wie es zu dem Kuss kommt und was daraus werden kann. Zur Visualisierung von Bewegung und zeitlichen Abläufen bedient sich Alhäuser zeichnerischer Übersetzungsformen, wie sie aus Comic-Strips oder Zeichentrickfilmen bekannt sind. Auf diese Weise konterkariert sie den wissenschaftlichen Habitus mit humorvoller Leichtigkeit und wirft, wie beiläufig, grundsätzliche Fragen zur Vermittelbarkeit von sinnlichen Erfahrungen auf.
Alhäusers Edition für die griffelkunst zeichnet sich durch einen besonders feine Farbabstimmung von Braun- und Hauttönen aus. Eine Besonderheit dabei ist, dass der beigebräunliche Bildfond randlos gedruckt ist. Die Farbe weiß entsteht durch Aussparungen im Fond, also durch das Durchscheinen des weißen Büttenpapiers.
Sonja Alhäuser
1969 geboren in Kirchen, Westerwald