B-Reihe / 368. Wahl
IV. Quartal 2017
Schwarzweiß-Photographien aus dem Nachlass
30,5 × 24,0 cm / 25,5 × 19,0 cm
Das Watt – Chaos und Struktur
Strukturen im Sandboden, 1933–36
1. Rundwellungen
2. Windwechsel bedeutet Richtungswechsel der Riffelungen
3. Ähnlichkeit mit der Aderung eines Pflanzenblattes
4. Schwere, starke Wellungen aus einem Brandungsgebiet
5. Von riesenhaften sturmbewegten Wassermassen
metallisch hart gestampfter Boden
6. Regelmäßiger Wechsel von Längswellungen und Kräuselformen
Papierqualität: Ilford Multigrade Warmton
Hersteller: Larry Lazarus, Hamburg
Mappe: Archivkarton mit Leinenrücken
Hersteller Mappe: Buchbinderei Thomas Zwang, Hamburg
Alfred Ehrhardts Watt-Photographien: Die Erscheinung der Welt als unvergängliche Lebendigkeit
von Stephanie Bunk
»Es kam mir darauf an, bereits im Ausschnitt das organisch Ganze zu zeigen,
was nur möglich ist, wenn man die Statik einer Erscheinungsform in der
Wahl des Ausschnitts überwindet und das dynamische Element eines Objekts
so in der Beleuchtung, im Winkel usw. fasst und so in die Fläche des
Negativs bringt, dass durch seine Bewegung trotz des Ausschnittes das
Ganze lebendig wird und dadurch im endgültigen Bild eine wirkliche Lebendigkeit
erreicht wird, die eben keine starre Photographie mehr ist.«
Alfred Ehrhardt, in: Das Watt, 1937
Es war ein lang gehegter Wunsch der griffelkunst, Photographien aus der Watt-Serie Alfred Ehrhardts zu edieren, die ihre historische Bedeutung vor allem durch das wunderbare Buch Das Watt erlangt haben. Das Buch zählt zu den großen Klassikern der Photobücher und ist 2014 noch einmal als Faksimile-Ausgabe des Originals von 1937 erschienen. Dank guter Zusammenarbeit mit der Alfred Ehrhardt Stiftung konnten wir nun die alten Negative mit neuem Leben füllen und die zeitlose Ästhetik der Motive sichtbar machen – bis heute haben sie nichts von ihrer abstrakten Schönheit verloren. Die formale Nähe zu Karl Blossfeldts Pflanzen-Photos ist nicht zufällig, denn beide Vertreter der Neuen Sachlichkeit teilen nicht nur die Zeitgenossenschaft, sondern auch das Interesse an der Natur, ihrer Struktur und ihrer Materialität.
Die griffelkunst hat bereits 1931 Holzschnitte von Alfred Ehrhardt verlegt. Zu dieser Zeit war er Lehrer an Landeskunstschule in Hamburg, wie die Hochschule für bildende Künste damals noch hieß. Erst nach 1933, als Ehrhardt von den Nationalsozialisten aus dem Hochschuldienst entlassen wurde, wandte er sich den Medien Photographie und Film zu. Zu unserer Überraschung haben wir bei der Beschäftigung mit der Serie entdeckt, dass die griffelkunst in dieser Zeit auch Watt-Photographien als Sonderblätter angeboten hatte. In den Mitteilungen zu der Herbstwahl 1936 heißt es dazu: »Ausnahmsweise zeigen wir Photos, die nicht direkt ins Gebiet der Bildenden Kunst gehören. Aber die besondere Güte der Watt-Photos veranlasst uns, den Mitgliedern das Angebot zu machen.« Ungeachtet der Einschränkung, dass es sich bei Photographie nicht um Bildende Kunst handeln kann – eine Einschätzung, die sich bis zu den späten 1960er Jahren halten sollte –, wurde schon damals die hohe Qualität von Ehrhardts Photographie erkannt. Begünstigt wurde dies sicher durch die erste Photoausstellung Ehrhardts mit annähernd 100 Aufnahmen vom Watt, die im Mai 1936 vom Hamburger Kunstgewerbeverein organisiert wurde. Dr. Christiane Stahl, Leiterin der Alfred Ehrhardt Stiftung, beschreibt die besondere Qualität der Watt-Photographien in ihrem Begleittext zur Mappe so: »Breitet man Alfred Ehrhardts Photographien abstrakter Sandformen im Watt vor sich aus, drängt sich der Gedanke auf: ›Chaos und Struktur‹. Der vom Künstler gewählte Bildausschnitt offenbart die immanente Schönheit des sich in so vielfältigen Formen darstellenden Naturgeschehens, aber die Zusammenschau der Formvariationen erstellt die Verbindung von Mikro- und Makrokosmos. Er bringt System in die Strukturen und Ordnung in das Chaos der Natur, als wolle er die Welt begreifbar machen.«
Alfred Ehrhardt, geboren 1901 in Triptis/Thüringen, war Organist, Chorleiter, Komponist, Maler und Kunstpädagoge, bevor er Photograph wurde. Nach einem Aufenthalt am Dessauer Bauhaus 1928/29, wo er bei Josef Albers studierte und bei Wassily Kandinsky und Oskar Schlemmer hospitierte, leitete er an der Landeskunstschule Hamburg den ersten Vorkurs für Materialkunde außerhalb des Bauhauses. Erst nach der Entlassung aus dem Hochschuldienst 1933 wandte er sich der Photographie und dem Film zu. Folgend auf sein photographisches Erstlingswerk Das Watt veröffentlichte er über zwanzig Bildbände und drehte mehr als fünfzig, teils hoch prämierte Filme. Alfred Ehrhardt starb 1984 in Hamburg.
Alfred Ehrhardt: Das Watt, Faksimile der Ausgabe von 1937, Éditions Xavier Barral, Paris 2014.
C. Hopfengart und C. Stahl (Hrsg.): Alfred Ehrhardt. Photographien, Ausstellungskat. Kunsthalle Bremen und Kunstmuseum Bonn, Hatje Cantz, Ostfildern 2001.